Vergessen und Verdrängen

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Donnerstag, 4. April 2013

Das habe ich dieser Tage irgendwo im Fernseher, ja gehört: Deutschland, Deutschland über alles. Gesungen in englischer Sprache! Irgendwelche Menschlein, die im vorvorletzten Jahrhundert nach Übersee gerudert und derart vergessen sind, daß deren Nachwuchs in der fünften Generation die Sprache der Heimat nicht einmal mehr singen kann. Aber die Tradition will hochgehalten werden. Am besten noch in der Kirche, den lieben Gott dabei um Beistand bittend.

Mitte der achtziger Jahre habe ich mich fernsehtechnisch mal mit dem Lied der Deutschen beschäftigt. Bereits zu dieser Zeit wußte kaum jemand (oder nicht mehr oder schon wieder immer noch nicht), was dieses von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt eigentlich bedeutet. Und nicht eben wenige würden das heutzutage vermutlich am liebsten mitsingen — auf deutsch. Manch einer tut's wahrscheinlich auch. Und nicht nur in Fußballstadien, wenn's bei Hand aufs Herz da heißt Einigkeit und Recht und Freiheit, für das deutsche Vaterland. Schließlich haben diese ganzen Polen damit angefangen, die haben zuerst zurückgeschossen. Im Zweifelsfall wird's nach Spielende, wenn diese ganzen wirtschaftsflüchtigen Anders-pigmentierten runter sind vom Platz, sogar atheistisch nachgebetet. Denn Religionsfreiheit bedeutet Materialismus, und der bedeutet nichts anderes als materieller Wohlstand. Ein neues Elektroauto zum Beispiel. Aus Japan oder Italien oder China oder Indien oder gar vom Erbfeind Frankreich. Erbfeind wohl deshalb, da man innerhalb der Erzfamilie erzmäßig zerstritten ist seit 1933. Schließlich war es dieser Charlemagne, der mit seinen Mordbuben den Osten, das Sachsenreich überfallen, darin menschen-geschlachtet und gebrandschatzt hat, bis es zu Kreuze kroch. Im Namen der Kirche. Und später dann verlagert in die Nationalsstaaten. Nun ja, solange alles nur billiger ist, interessiert das nicht und auch keine Grenzen. Nur wegbleiben sollen sie, diese ganzen Schlitzaugen und Froschfresser und Mafiosi.

Dieser Einzellerkosmos singt einfach das «Deutschlandlied» und mag erst gar nicht das schlichteste Lexikon aufschlagen oder anklicken, wo nachzulesen wäre, daß der später dafür mit Berufsverbot belegte Dichter Hoffmann von Fallersleben «für fünf Louisdor» mit seinem Lied der Deutschen beziehungsweise dem Ruf Deutschland, Deutschland über alles was anderes gemeint hat, als dem Nachbarn den Kopf einzuschlagen, weil dessen Äpfel und Birnen übern Zaun in Herrn Schrebers Garten hängen. Einigkeit und Freiheit meinte weniger den freien Blick aufs Mittelmeer, sondern die Abschaffung der Kleinstaaterei. So ähnlich wie bei diesem Europa. An dem genaugenommen ja auch dieser Charles Magnum, den ich, aus welchem Grund auch immer, wahrscheinlich, weil ich immer nur an das Eine denke, allzu gerne ins Manger verdrehe, schuld ist, dessen zwergenhafter Nachfolger sich später auch noch zum Großkaiser des Heiligen Römischen Reichs krönen ließ und der, wenn man's genau betrachtet, dann auch noch irgendwie an diesem Versailles schuld ist, an das der gute Deutsche vor einiger Zeit erst die letzte zweistellige Milliardenrate überwiesen hat, die zu diesem Zeitpunkt fast so hoch war wie seine ganz persönliche Neuverschuldung. Als ob er nicht schon an diesem Hartz oder wie diese ganzen antiken Griechen aus Zypern alle heißen genug zu beißen hätte?

Nun ja, Geschichte. Also alles das, was gestern und vorgestern und noch ein bißchen früher stattgefunden hat. Ja, genau, diese Franzosen, die die Fête Nationale feste feiern, die Place de la Bastille sozusagen ohne jedes Entsorgungsbewußtsein mit gläsernem Müll überhäufen und nicht wissen, was sie da einfach so rumfeiern. Das hat schließlich schon der allzeits- und -seits geliebte deutsche Dichter Kurt Tucholsky festgehalten in seinem Paris, den 14. Juli: Viele wüßten gar nicht mehr, aus welchen Gründen sie zu ihrem Nationalfeiertag auf den Straßen tanzten, die wüßten nichtmal mehr, wie die Marseillaise entstanden ist.

Eben alles Schnee von gestern. Und wann schneit's wieder?

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