Vergessen und Verdrängen

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Dienstag, 5. Februar 2013

Vom Theater wollte ich mich einmal verabschieden, auf ewig, für immer. Es hatte mich ausgezehrt, nahezu jeden Abend, während andere fröhlich in der Kneipe saßen, zuschauen und mir anhören zu müssen, wie andere die Dramatik niederspielten, und dann auch noch tagsüber, während andere lustvoll im Café saßen und über so wesentliche Dinge wie Fußball oder Frauen plauderten, damit beschäftigt zu sein. Aber nicht ausschleichen wie aus einer nicht mehr benötigten medikamentösen Therapie wollte ich mich, mich langsam von der Drogensucht befreien. Mittels einer Überdosis sollte es geschehen, sozusagen mit einem goldenen Schuß wollte ich mich hinauskatapultieren für alle Zeiten. Also noch einmal richtig Theater machen, aber eben selber.

Im Lauf der Jahre, der die Berufung in den Beruf eines professionellen Berichterstatters umwandelte, hatte ich quasi als Ausgleich zu den größeren Häusern zarte Bande geknüpft zu kleinen Bühnen. Teilweise waren sie meine Ersatzkneipen, saß man in dieser beinahe hermetischen Welt doch in der Regel auch nach den Vorstellungen familiar zusammen und soff sich Erfolg oder Mißerfolg gleichermaßen in die oder von der Seele und ging oft genug anschließend gemeinsam ins Bett, um am nächsten Morgen einen Kater neben sich liegen zu haben. In einer solchen lebhaften Runde erklärte ich eines späten Abends jammernd mein Leid des Überdrusses sowie meine Abschiedswünsche. Voller Verständnis lauschte man meinem elegischen Vortrag, worauf mir der Leiter des Kellertheaters seine Bühne anbot für den großen Abgang. Das kleine Haus war insofern ideal geeignet, als darin überwiegend politische Stücke aufgeführt wurden und mir Friedensbewegtem ein Stück über den Krieg vorschwebte. Seit meiner Jugend schwirrten mir zwei Stücke sozusagen pennälerhaft durch den Kopf. Zum einen war da die Goethe-Groteske von Egon Friedell und Alfred Polgar, bei der ich meinem Unmut über den Dichterfürst, den ein anderer einmal recht drastisch charakterisiert hat, hätte freien Lauf lassen können. Aber ich wollte ja Welttheater produzieren, und mit dem Geheimrath war in diesem Zusammenhang kein Staat zu machen. Also ging ich mit Wolfgang Hildesheimer nach Troia und huldigte dem Opfer Helena. Damit konnte ich zugleich meiner Solidarität mit Frauen Ausdruck verleihen. Die spielten ohnehin in meinem Leben die Hauptrollen. Meiner Experimentierlust könnte ich obendrein frönen, indem ich aus der Friedensdame zwei machte.

Zuvor mußte ich den Autor um Erlaubnis bitten. Der reiste an, setzte sich freundlich mit mir zusammen und besprach mit mir die Teilung der Frau. Unvergessen bleibt mir seine Äußerung, auf die Idee hätte er auch kommen können. So gab er die Rechte am Stück kostenlos frei. Eine Chronistin würde es geben, eine Darstellerin leicht fortgeschrittenen Alters, die die Geschichte aus den Nachkriegsjahren erzählen, hier der Bundesrepublik Deutschland, während eine jüngere das Theater mit ihrem Gatten Menelaos und um die vermeintliche Liebe zu Paris spielen sollte.

Ich hätte es bei der dramaturgischen Tätigkeit belassen und weiterhin allabendlich beim Zukucken aktiv sein sollen. Denn meine Lust am dramatischen Abgang vom Theater führte mich geradewegs in eine Arbeit mit ihm hinein, wie sie zu Molières Zeiten, als er noch den Thespiskarren über Land zog, um das Volk zu beglücken, heftiger nicht sein konnte. Urlaub hatte ich genommen und einen Kredit dazu. Maximal sechs Wochen waren uns gegeben, vor Beginn des 1983 wiederbelebten Theaterfestivals sollte die Inszenierung stehen, ansonsten würde niemand mehr zu uns in den Keller steigen. So war es denn auch. Fünfmal mußte ich umbesetzen, jedesmal diese windige Figur Paris. Immer wieder kam der eine oder andere Fernseh- oder Filmdreh dazwischen, der den Vorzug bekam gegenüber dem Schauspiel. Beim vierten Mal ging ein mittlerweile auch als Tatort-Kommissar Ergrauter von Bord des Schiffes nach Troia. Das Hemd ist dem gemeinen Schauspieler häufig näher als die Kunst — verständlich, nach den Proben renovierten wir zunächst einmal das gesamte Theater, da wir der Meinung waren, niemandem diese völlig versifften Räume zumuten zu können. So sollte auch der Herr Theaterdirektor später seine Auftritte im weißesten Weiß der clementinischen Epoche haben; jedenfalls beim Pinkeln an den dann urinsteinfreien Urinalen strahlte er.

Erhärtet worden war der Wunsch nach Restauration nicht zuletzt durch eine grandiose Staffage: ein fulminantes Bühnenbild, das ein an der nahegelegenen Kunstakademie lehrender Künstler entworfen und dessen Meisterschüler hatte zimmern lassen. Eine auf Leinen siebgedruckte Photographie des bombenzerstörten Dresden gab den Hintergrund, auf der vorgerückten Bühne befand sich ein Nachbau des auch heute noch faszinierenden Nogushi-Tischs; der Antiquitätenhändler von gegenüber hatte sich das edle Stück sofort nachbauen lassen. Am ehesten würde das Publikum die fünfziger Jahre allerdings an den Salzletten erkennen, die aus dem Elternhaus der damals noch kinderlosen, weil man unverheiratet so etwas noch nicht kriegte in besseren Kreisen, mittlerweile ehemaligen bundesdeutschen Familienministerin kamen, unentgeltlich wie die Etiketten, teilweise noch komplett etikettierte alte Flaschen der Kellerei, deren Werbemotto etwas später, als die Blumenkinder zur Mode drängten, lauten sollte Folge den Linien deiner Hand — trinke MM-Sekt aus Meisterhand. Das Sponsoring war zwar bereits erfunden, aber wir gaben ihm entscheidenden Auftrieb. Die kregelige Regieassistentin hatte allüberall Kleidungsstücke dieser Zeit aufgetrieben, die Chronistin würde in einem Cocktailkleid auftreten, wie es jede feine Dame im Schrank hängen hatte, die Herren im Smoking; diejenigen, die auf das Wirtschaftswunder warteten, sahen zu dieser Zeit irgendwie noch ein wenig uniformer aus.

Die Feuerwehr, wäre sie anwesend gewesen, hätte zur Premiere das Haus geschlossen, denn es war zum Bersten voll. Ich auch. In der Kneipe gegenüber, die uns als Kantine diente, in der wir bis zu den großen Einspielergebnissen auf Kredit essen durften und nicht zuletzt gezecht haben, hatte ich mein Lampenfieber niedergetrunken. Zum nicht endenwollenden Schlußapplaus wurde ich dort hinaus- und anschließend auf die Bühne gezerrt. Das Publikum labte sich am eigens dafür zubereiteten kalten Buffet. Der harte Kern feierte den Erfolg bis in die frühen Morgenstunden; mich hatte man vorsichtshalber ins Bett gebracht, weil ich ihn sonst vermutlich nicht ertragen hätte.

Zwei Wochen lang spielten die Darsteller tapfer das Opfer, in der Regel vor drei bis zehn Zuschauern. Dann gaben sie, gaben wir auf. Das Festival des Theaters hatte uns den Vorhang fallen lassen. Wenigstens fürs erste oder auch vorübergehend war ich kuriert. So schaue ich mir zwar weiterhin Dramatisches an, weil ich letztlich doch nicht ganz runtergekommen bin von der Droge; Sucht ist schließlich eine Krankheit, die gepflegt werden möchte. Aber nach diesem Theater tue ich das ohne jeden professionellen Antrieb. Es ist wohltuend. Ohnehin ergriff mich danach ein weiteres Mal eine andere Berufung, zumal ich mit der Fragestellung Was kostet uns das Theater, das wir uns leisten? diese Ära bereits im Vorfeld journalistisch abgeschlossen hatte, ich folgte dem Ruf der Interpretation der bildenden Kunst. Nun hat sich's ausberuft. Jetzt blogge ich mir selber einen vor.

Ein paar Zeilen zum Stück in den Kommentaren.

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Das Opfer Helena
Helena, das schöne, ewig weibliche, verführerische Synonym für das vielzitierte «schwache Geschlecht», sie wurde und wird allzu gerne auf unsere Bühnen gestellt. Lächelnd, immer ein bißchen ‹typisch weiblich hintertrieben›, weiß sie, was sie dem Status quo ihrer Rolle im Theater der Männergesellschaft schuldig ist.

Wo aber ist die ‹schöne Helena› als Repräsentationsinstrument männlicher Machtsehnsüchte oder auch sogenannter Sachzwänge? Wolfgang Hildesheimer hat sie Mitte der fünfziger Jahre für sich und das Theaterpublikum entdeckt. In einer etwas aufgelockerten Weise sozusagen.

Unverkennbar ist seine Sympathie für diese Frau, die in der von Männern geschriebenen Historie beziehungsweise Literatur zwar als bedeutsam, aber nicht eben im positiven Sinn, bezeichnet wird. Sechzehn Jahre nach der (Hörspiel-)Uraufführung, 1971, bekannte er in einem Gespräch mit Dierk Rodewald, mit ihr könne er sich nach wie vor identifizieren.

Das Opfer Helena ist sie bei Hildesheimer wegen der Macht- und Kriegsgelüste der Könige ergo Führungspolitiker Griechenlands und auch derer von Troia. Wobei ihr Gatte Menelaos, König von Sparta, noch die ‹Güte› hat, ihr vorab klarzumachen, daß sie, quasi als Landesmutter, sich vom troianischen Prinzen Paris entführen lassen müsse. Anders nämlich ließe der Krieg gegen die Troianer sich nicht mehr entfachen.

Doch Hildesheimers Helena beschließt, diese Kriegstreiberei mit, nenne ich's mal so, ‹weiblicher List› zu unterlaufen. Zwar wird sie der Forderung nachkommen, ihr sogar entgegenkommen, indem sie Paris verführt, um sich von ihm entführen zu lassen. Aber doch nur, um den troianischen Königssohn davon zu überzeugen, daß man auf einer einsamen Insel nicht nur ein angenehmeres (Liebes-)Leben verbringen, sondern darüber hinaus auch einen Krieg verhindern könne. Alles scheint bestens abzulaufen, zumal dieser Jüngling wenigstens optisch einiges zu bieten hat.

Doch auf dem Schiff läßt dieser schöne, scheinbar politisch desinteressierte Höfling die Maske fallen. Von wegen Unschuld! Ab geht's nach Troia. Sie dorthin zu entführen, war schließlich der Anlaß seiner Reise nach Sparta. Denn auch die Troianer wollen, bei Hildesheimer, nichts anderes als Krieg. Soweit, in knappen Worten, der Handlungsverlauf.

Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, daß es, wie mir Marketa Kimbrell vom New York Street Theatre Caravan auf dem Münchner Theaterfestival 1980 sagte, «Frauen leichter fällt, Macht abzugeben». In ihrem eigen-artigen Versuch, Macht- und Territorialbestrebungen in Frieden umzuwandeln, gerät Hildesheimers Helena in das Räderwerk männlicher Denkschemata, das in der Verlogenheit der Diplomatie gut gelagert ist und wie geschmiert läuft. Für ihr Buchstabieren des Begriffes Vernunft erntet sie nur ein ignorantes Achselzucken. Sie ist eben ‹von Natur aus› falsch programmiert.

Auch in ihrer Tochter Hermione findet Helena keine Unterstützung. Die liebt die älteren, gut situierten, weisen Herren, sie bettet sich in den bequemen Strukturen bestehender Verhältnisse. Hermione fühlt sich wohl in der Befürwortung des von den Männern Geschaffenen, ermahnt ihre Mutter gar, mehr Moral zu zeigen, eine Moral, die in der Formel aufgeht, daß man(n) dies oder das nicht tue. Sie unterstützt eine Politik, mit der verhindert werden soll, daß andere über den Tellerrand der Wirklichkeit hinauszusehen in der Lage sind, um möglicherweise diese Art von Wirklichkeit zu verändern. — Hermione trägt mit Vorliebe den Plissèerock des Angepaßtseins und verhindert eine Politik, die verhindert, daß noch mehr Unheil verhindert wird.

Nach zehnjähriger Gefangenschaft in Troia wird Helena von Menelaos heimgeholt ins Reich von Sparta, das nur noch Überreste an ‹Menschenmaterial› aufzuweisen hat. Dennoch ist Menelaos stolz auf diesen ‹Spartanischen› Sieg. Bei Hildesheimer versucht Helena, wenn auch spöttelnd, Menelaos noch einmal von der Sinnlosigkeit dieses, genauer: jedweden Krieges zu überzeugen. Doch Menelaos hat sich in diesen zehn Kriegsjahren nicht eine Spur geändert. Genau so die mittlerweile ‹erwachsen› gewordene Hermione. Die saß schließlich wohlbehütet im bombensicheren Bunker und genießt nun, in ihrem scheuklappenartigen Wesen, die für sie günstigen Nachwehen dieses zehnjährigen Krieges. Stellen wir uns vor, als Parallele zur Nachkriegszeit in Deutschland, es gäbe so etwas wie ein spartanisches Wirtschaftswunder, eine Phase des wirtschaftlichen und kulturellen (sic!) Wiederaufbaus.

Um gar nicht so viele Ecken gedacht sind wir Das Opfer Helena von Wolfgang Hildesheimer. Vergleicht man die Ergebnisse der Bundestagswahlen beziehungsweise hält sich die sich daraus ergebende Politik vor Augen, so scheinen wir uns in dieser Opferrolle recht wohl zu fühlen.


Aus dem Programmheft des Münchner Theater k, 1983

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