Vergessen und Verdrängen

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Donnerstag, 7. Februar 2013

Vor einiger Zeit habe ich mir mal wieder ein Tütchen mit den Champagner-trüffeln der einstmals belgischen Chocolatiers gegönnt, die zu Reklame-zwecken diese Dame Godiva für sich reiten lassen. Sie sind nicht diese Köstlichkeiten wie die von dem winzigen Lädchen am Fäkalienmarkt, dessen Maître es ohne weiteres mit den Pariser Meistern der Praline aufnehmen kann. Aber deshalb nach München zu fahren, das ginge mir dann doch zu weit. Da läge mir die Seine-Metropole dann doch näher auf meinem Weg zur Schönheit. Als ich heraustrete aus dem kleincaféartigen Laden mit den leckeren Damen, zumindest sehen sie so aus in ihrem edlen Arrangement, stehe ich arkadisch überdacht und blicke auf das Rathaus, daß auch nicht gerade schön, aber so häßlich wie das münchnerische nun wirklich nicht ist. Da folgen mir zwei zwar ansehnliche, aber mir doch zu sehr von hanseatischem Altschick geprägte vermutliche Blankeneserinnen mittleren Alters. Du, sagt da die eine zur anderen, du hast hast da einen Fleck auf der Bluse. Wahrscheinlich hat sie sich den beim Mißachten sämtlicher Anweisungen ihres Ästhetikmagazins zugezogen. Wie ein Schrei des Entsetzens entflieht es ihrem kürzlich noch mit Crèmeschnittchen (so ward einst dieses süße Autochen im Saarland genannt) gefüllten Mund sowie richtigem, fair gehandelten Kakao, obendrauf einen satten Schlag Bio-Obers, wie sie, polyglott, die sie nunmal ist, in Wien parlieren würde: Mon Dieu, wie unästhetisch!

Das hatte ich lange nicht gehört. Ich dachte, es sei völlig ausgestorben, seit ich es wegen Überbeanspruchung nicht mehr als Beispiel heranziehe für die nicht ganz korrekte Definition von Ästhetik oder Schönheit. Sogleich kam mir Winckelmann wieder in den Sinn, dessen Edle Einfalt, stille Größe. Das entspricht einem Schönheitideal, von dem (nicht nur) der Deutsche sich anscheinend nicht befreien mag. Es ist offensichtlich einfach zu schön still in einem solchen Kerker klassizistischer Ideale. Da muß nicht weiter darüber nachgedacht werden, daß sich etwas verändert haben könnte im Lauf der Zeit.*

Die Schönheit steht seit Baumgarten nicht mehr nur allein als ästhetisch im Denkraum. Mit ihm wurde die Ästhetik zur eigenen Disziplin. Winckelmann beziehungsweise seine stur an diesem ihm zugeschriebenen Formwillen festhaltenden, ihn allerdings häufig bewußt oder unbewußt mißinter-pretierenden, die Zeitläufte gerne ignorierenden Nach-Denker halten diese Fahne der Ästhetik = Schönheit bis heute hoch. Meines Erachtens sind das diejenigen, denen es nur um das Formale geht, das Innere jedoch völlig unberücksichtigt lassen; ich nenne sie gerne: innen hohl, weil es ihnen nur aufs Äußerliche ankommt. Daraus resultiert meines Erachtens: Zusammenhänge interessieren sie nicht. Demzufolge kommt es letztendlich zum von mir früher immer wieder gern Zitierten: Deine Bluse ist aber sehr unästhetisch; oder eben der Fleck auf ihr, der sie häßlich macht. Das ließe sich fortsetzen in diesem unsäglich anhaltenden Geplapper von Designerbrillen, Designermöbel et cetera. Kein Produkt kann ohne Designer entstehen, alles muß durchdacht gestaltet werden. Wenn es aber, wie häufig der Fall, innen auf die Schnelle, zwecks des Gewinns etwa, zusammen-geflickschustert wird, Hauptsache es hält ein Weilchen, außen jedoch glänzen, dem potentiellen Käufer das Gefühl der Exclusivität vermittelt werden soll, dann sind wir wir wieder bei dem postwinckelmannschen Prinzip des schönen Scheins, bei dem es ausschließlich auf die Fassade ankommt. Im schönen Italien wird übrigens die Gestaltung menschlicher Fassaden Estetica genannt.

Oder so: Eine für den Berlinale-Teppich hochgeschminkte oder für die elektronische oder gedruckte Bildstrecke präparierte Frau kann für mich in dieser Form nicht schön sein. Ich weiß eben, daß sie aufgetakelt ist. Sollte ich die gute mehr oder minder alte Fregatte aber kennen, vielleicht weil ich mich mit ihr näher befaßt habe, besser noch: sie mir in einem Zustand bekannt ist vor der Auftakelung für die Regatta, mit allen Fältchen oder auch Falten und Leberflecken und sonstigen Roststellen, bei dem sie nicht aufpassen muß, daß ihr beim Lachen oder Weinen über meinen Sermon der Spachtelkitt von den Innereien rutscht, dann wird sie auch für mich schön sein. Und wenn da so ein Hühnchen sich bereits in jüngsten Jahren eine fleischeslustige Brust anoperieren zu meinen glaubt und gar nicht weiter darüber nachdenkt, daß es das tut, um anschließend zur Schlachtbank geführt zu werden, dann empfinde ich das als unschön. Aber mit Ästhetik hat es trotzdem zu tun. Weil ich Hirnlosigkeit, da mag sie als noch so schön gelten, als häßlich empfinde.

Für mich bedeutet Schönheit immer das vielfältige Gesamte, das sozusagen von innen heraus Entwickelte, besser: aus Kenntnis und Erfahrung Gewachsene. So kann das Leben schön sein, auch die Kunst kann ich übrigens so um einiges besser verstehen, da das sogenannt Häßliche so häßlich dann eben nicht mehr ist. «Das ‹häßlichste Häßliche›», zitiert Jens Bisky den weisheitsliebenden Karl Rosenkranz, «sei nicht ‹das, was aus der Natur in Sümpfen, in verkrüppelten Bäumen, in Kröten und Molchen, in glotzenden Fischungeheuern und massiven Dickhäutern, in Ratten und Affen› uns anwidere, sondern ‹die Selbstflucht, die ihren Wahnsinn in den tückischen und frivolen Gebärden, in den Furchen der Leidenschaft, in dem Scheelblick des Auges und — im Verbrechen› offenbare.»

* Das mag hier sehr vereinfacht dargestellt sein, aber hier findet schließlich kein Kulturseminar statt, und auch Journalismus im Sinn der Aufklärung wird nicht betrieben, das habe ich vor langer Zeit aufgegeben. Wer sich von seinem bisherigen Ästhetik- beziehungsweise Schönheitsideal lösen möchte, dem bietet das Weltnetz hinreichende Möglichkeiten. Das hier ist mein kleines Poesiealbum, und in dem darf ich fröhlich vor mich hinsabbeln und -formeln, also beim Angerissenen und auch verwirrend Subjektiven, also Ungenauen bleiben.

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