Vergessen und Verdrängen

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Sonntag, 3. März 2013

Vom Broiler hatte ich mal erzählt, und daß ich ihn verschmäht hatte zugunsten einer Thüringer, da ich einerseits den Geschmack kannte und andererseits auch wußte, daß ich den einen oder anderen noch vertilgen würde. Jedenfalls solange es die DDR noch gäbe. Daß es nicht mehr lange gehen würde mit ihr, war offensichtlich. Aber ich wollte sie so sehen, wie sie war. Und nicht, wie sie aussehen würde als bereits angeschönte Leiche, was sich ja bereits abzeichnete. Das war der Grund für eine längere Reise, vor allem entlang der Strecke, die ich früher oft gefahren war nach Saßnitz, von wo aus ich regelmäßig übersetzte nach Schweden (um von dort aus weiterzufahren nach Finnland). Es war um einiges günstiger als von Travemünde aus, wo in noch früheren Zeiten mein Volvo P 544* per Ladekran in den Bauch der alten, noch stabilisatorenfreien, also erheblich seekrankheitsfördernden Allotar** versenkt wurde, und quasi naheliegender. Von Berlin aus wäre die DDR in westlicher Richtung gen Lauenburg zu durchqueren gewesen. Das hatte mich weniger gereizt. Seinerzeit zog es mich zugvogelgleich noch direkter in den Norden. Und ich wollte mir das anschauen, das ich mir zuvor nie anschauen durfte, war es doch bei Androhung eines längeren Bautzen-Aufenthaltes verboten, auch nur den bröckeligen Randstreifen des Weges nach Rügen zu berühren.

Einmal hatte ich es in meiner anfänglichen Naivität noch gewagt, nach rechts abzubiegen, um mir mal ein Dörfchen anzuschauen. Als ich nach etwa einem Kilometer anhalten mußte, um mich zu orientieren, kam ein Menschlein mit beiden Armen über den Kopf winkend über eine Koppel angerannt und stammelte nach Ankunft ins Seitenfenster hinein, stellvertretend angstvoll hektisch, als ob er gewußt hätte, daß ich lediglich über ein Transitvisum verfügte, das dürfe ich nicht, das sei hochstrafbewehrt oder so ähnlich. Seine Abwehrrede hatte mich derart beeindruckt, daß ich wieder zurückfuhr auf die nichtstrafbewehrte Straße.

Das alles wollte ich tun: nach rechts oder links abbiegen, ohne im gefürchteten Zuchthaus zu landen. Es sollte ja erlaubt sein, hieß es, als der Schlagbaum hochgegangen war. So richtig wohl war mir dennoch nicht. Bei der Einreise in die DDR direkt neben dem Brandenburger Tor habe ich gar noch gezittert, habe hinter jedem Verkehrszeichen noch einen mit aufgepflanztem Bajonett hervorspringen sehen. Im Hals hatte ich mein Herz pumpen hören, aber nicht aus Freude, endlich die geliebte Ostzone befahren zu dürfen, sondern aus Angst. Schiere Angst war das. Die DDR war schließlich noch nicht endgültig vom Kapital überrollt worden, war noch ein selbständiger Staat samt Gewalt. Erst weit hinter Berlin beruhigte ich mich wieder einigermaßen, zumal weit und breit nirgendwo ein uniformierter Trabant oder Wartburg zu sehen war, der mich hätte verhaften können. Vermutlich waren die allesamt zum Mauerpicken nach Berlin abgeordnet worden. Oder sie standen bereits vor den Toren westdeutscher Kaufhäuser, wo man begonnen hatte, Müllsonderposten für mehr oder minder regulär eingereiste DDR-Staatsbürger anzupreisen. Mir war zu Ohren gekommen, daß sie sogar in Ostmark zahlen durften.

Der seinerzeit einzig existierende Billigheimer hatte, kapitalismusgeübt, wie er nunmal war, für die BRDler irgendwo die Land- und Straßenkarten von 1938 ausgegraben und ganz rasch millionenfach neu aufgelegt. So kam das Deutsche Reich vorübergehend wieder wieder heim ins Reich. Und ich durfte die jüngere Vergangenheit samt Vorboten des Gesamtdeutschen durchqueren. Damals wäre einer dieser von den Deutschen so geliebten allrädriggetriebenen Luxus-LKW titels SUV sinnvoll gewesen. Denn 1938 hatte man schließlich begonnen, panzertaugliche Wege zu planieren. Hinzu kamen der aktuelle Straßenzustand sowie Strecken, die seit dieser Zeit nicht verändert, aber mittlerweile teilweise von märkischem Sand bedeckt waren und das eine ums andere Mal durch Wälder führten, oftmals unzugänglich für die einheimische Fahrzeugproduktion. Nicht nur, weil die dort zusammengebrochen wäre, sondern weil es sich häufig um Sperrgebiete handelte, zu denen Arbeiter und Bauern keinen Zutritt hatten. Ich hatte mir das Recht des Privilegierten herausgenommen und alle Hinweise auf eventuelle scharfe Schüsse ignoriert. Woher ich den Mut und die Gewißheit seinerzeit hatte, wird mir bis heute ein Rätsel bleiben. Zumal ich nun wirklich nicht zu den Abenteurern gehöre und überdies keinerlei verwandtschaftlichen Bezug zu den Ländereien jenseits von Oder und Neiße hatte. Manchmal hielt ich mitten im Wald an, stieg aus, schaute nach rechts und nach links, sicherte sozusagen, und wühlte ein wenig im Boden jüngerer Vergangenheit. Zwei-, dreimal stellte ich fest, daß ein paar Zentimeter unter dem märkischen Sand die gepflasterte DDR lag: Betonplatten, wohl panzertragend. Aber es ist ja mittlerweile hinlänglich bekannt, welche Anstrengungen man im Osten unternommen hatte, die Wirklichkeit zu kaschieren.


* Das ist nicht meiner, aber so ähnlich sah das Gefährt aus, von dem mein Vater meinte, ich hätte es mir verdient nach all den anstrengenden Jahren in allen möglichen Schulen, und mich damit und ein paar Koffern versehen in die weite Welt hinausschickte. Irgendwie trauere ich dem manchmal ein wenig nach. In erster Linie dem Auto.


** Die später als Rogalin bei Polferries weitertuckern sollte.

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