Vergessen und Verdrängen

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Freitag, 15. Februar 2013

«Geschmack oder Gefallen sind kein Schicksal, sondern lassen sich auf zahllose biografische Umstände, letztlich die ästhetische Erziehung oder Selbsterziehung hin erklären. Dabei gibt es archetypische Strukturen, aber interessant wird es eben erst dahinter, wenn die Empfindung sich verfeinert.»

Goedart Palm


Ich hatte anläßlich eines Schuh-Einkaufserlebnisses in Besançon mal auf meine Ästhetik-Kriterien hingewiesen, genauer: auf mein zunächst formal- und dann in der Regel auch ästhetisches Procedere bei anstehenden Bewerbungen um zumindest kurzfristige intensivere Beziehungen. Es hat, vermutlich mit der Reduktion der Ausschüttung von Testosteron einhergehend, etwas nachgelassen, würde aber im Fall der Fälle zum unausweichlichen Prozeß: Ich achte darauf, welche Art von Fußbekleidung eine Frau trägt. Ist sie von schlichter Eleganz, kann ich mit fast hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, daß mir auch das gefällt, was dann (weiter oben) noch kommt. Also Blickfolge: Schuhe, Gesicht, Ausschnitt.

Liebe und Schuhe. Das hat Irritation hervorgerufen. Deshalb hier Verifikation. Aber da wir uns in keinerlei kunsthistorischem und/oder kulturphilosophischem Rigorosum befinden und auch keinerlei Qualitätsjournalismus unterworfen sind, sondern uns der frei flirrenden, von niemandem ernstgenommenen Plauderei, bisweilen auch Feuilleton genannt, hingeben dürfen, stelle ich diesen Ablauf jetzt in eine Reihe mit Ortega y Gasset. Er hat im Zusammenhang mit der Liebe geschrieben: «Man sollte das Sprichwort dahin variieren: ‹Sage mir, was du beachtest, und ich will dir sagen, wer du bist.›»* Das sei sehr heftig, vielleicht dann doch etwas gewagt als These, kommentierte das eine Dame und fügte ein himmelanrufendes Mon Dieu ! an. Ebensowenig wie der Liebe Gott etwas mit unseren von wem auch immer geprägten Schönheitsvorstellungen zu tun habe, entgegnete ich daraufhin und setzte in eherner Konsequenz fort: Schuhe seien eben aller Laster Anfang, so etwas wie die Erbsünde (peccatum originale originatum), ausgelöst durch einen triebhaften Griff (peccatum originale originans) ins regalgleiche Geäst. Und damit sei der Zusammenhang zumindest ohne jeden kulturhistorischen Riß hergestellt. Denn Ortega y Gasset beziehe schließlich den Vergleich auf die Kunst wie auf «sexuelle Gegenstände».**

Es ist fast ein Automatismus: Erster Blick Gesicht, zweiter Blick nach unten. Ganz runter. Auf den Boden. Auf den oder die Sockel einer mehr oder minder schönen Realität. Dorthin, wo Schönheit oder Nicht-Schönheit quasi fußt. Und ich habe mich dabei selten geirrt. Was den Geschmack betrifft. Und das wäre ja immerhin schon ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch. Angenehmer jedenfalls, als über so eine an der Leine oder gar auf dem Arm mitgeführte Töle namens Fifi zu plaudern (diesem Tier, das in Frankreich höhere Wertschätzung erfährt als der Stier; als der europäische allemale). Na ja, ich will's nicht verhehlen. Es gibt schon auch den antrainierten Massengeschmack der Besserverdienenden. In die diversen kulturellen Frontgeschehen mit ihren Aussichtstürmen schickt(e) mich der Beruf ja des öfteren. Und dort sieht man dann die leicht verwackelte Sicherheit sofort, weil es wieder irgendeine Applikation an der Trägerin gibt.

Darin sind Französinnen im übrigen weltweit führend! Ein unvergessenes und nach wie vor gültiges Beispiel aus der arte-Kultur: Da sitzt diese wahrhaftig aparte, ungemein charmante Politologin — die im übrigen gut zu Mitterands Équipe der schönen und klugen Frauen gepaßt hätte. Ein Jammer. Sie war noch zu jung. Und Chirac hatte einfach nicht den guten Geschmack seines Vorgängers. Also, Anne Muxel, deren reizvollem Gesicht man die Klarheit nicht nur ihrer politischen Analyse ansieht — und was trägt sie? Irgendwelche völlig ungereimten, aber auch als Prosa nicht eben schlüssigen Stickereien auf dem an sich einfachen, schlichten Kleid, auf der Kostümjacke. Einmal zumindest. Das hat mich von meinem Glauben abfallen lassen. Es wallten schlimmste Befürchtungen in mir auf, daß sie das nächste Mal von Coco Chanel persönlich eingekleidet daherkommt, in Bleue oder Rouge und mit Goldknöpfchen. Wie Madame von der Restaurant-Réception. Das hat sie dann doch glücklicherweise unterlassen. Sie wußte wohl, daß da einer vor der Glotze sitzt und auf sie als die naturschöne Anne Muxel wartet und nicht auf die Pariser Applikations-Schaufensterpuppe. Wie auch immer — es fehlte nur, daß sie sich noch irgendwo einen scheinbar exotischen Schmetterling auf den sicherlich entzückenden Popo hätte tätowieren lassen. Na ja, den sehe ich ja nicht. Wie ihre Schuhe. Vielleicht wäre ich da enttäuscht. Von den Schuhen. Am Ende würden die mir einen Hinweis auf einen chinesisch stilisierten Miniaturdrachen auf ihrem rechten Schulterblatt geben. Oder ich würde mich nicht weiter wundern über die niedlichen kleinen Verzierungen am Jackenärmel. Auf jeden Fall sehr französisch! Ich kenne das von französischen Damen der Gesellschaft. Oder solchen, die's gerne wären. Ob in Pau, Nantes, Lyon oder in München oder Hamburg. Besonders gerne auch in Marseille! Dort bekommt es dann allerdings noch eine etwas nuttige Note.

Hier'n Bömmelchen, da ein Litzchen, dort ein Goldknöpfchen. Also — Mode nennt man das, glaube ich. Die Verkleidung nichteigener Gedanken zum Thema. Oder überhaupt keiner Gedanken. Es wäre kein Einzelfall. Die Gebildete hat zwar die höhere Mathematik der Grazie durch Schlichtheit (auswendig?) gelernt, kehrt aber in der Praxis zum kleinen Einmaleins zurück, weil sie die Wurzel nicht ziehen kann, die aus der Tiefe kommt (Anmut kommt von innen und will draußen als Schönheit gefallen?). Sie ist sich ihrer Sache nicht ganz sicher, weshalb sie ein Stückchen irgendeines sinnentleerten Ornaments an sich drankleben muß, um das sogenannte Schöne noch zu verschönern, quasi es zu unterstreichen. Und das geht in die Hose — von mir aus in den Rock. Wie anders dagegen — ich winde mich bei dem Gedanken, den Stab über meine geliebten Landfrauen brechen zu müssen — und greife noch einmal auf, was der (noch etwas jüngere) Meisterdenker Glucksmann in seiner Cartesianischen Revolution wohl auch ein bißchen — ein bißchen, wohlgemerkt! — ironisch meinte, aber so schreckliche Gültigkeit und Richtigkeit hat. Außerdem geht es mir jedesmal runter wie jungfräuliches italienisches Olivenöl. Auch wenn er es vor gut zwanzig Jahren geschrieben hat, so hat es doch eine elementare Gültigkeit. (Aber auch die Deutschen kriegen da ihr Öl weg. Hier ist es dann gutes aus Frankreich.)

In seinen Gedanken über die Herkunft Frankreichs aus dem Geist der Philosophie steht geschrieben, daß Frankreich Italien in seiner «Langzeitidentität» die Suche nach dem Schönen überläßt. Er fragt, ob die Italiener heute — ich meine, mehr denn je! — vor allem vor der Häßlichkeit Angst hätten (weshalb sie sich wohl den immerschönen Silvio zurückgeholt haben). Und der deutschen Kultur — ach, ist das schön! — «überläßt Frankreich die Sorge um das Gute, den Wunsch, gut zu sein, das engelgleiche Dasein eines Gretchens, das so lebt, als gebe es das Böse nicht und doch außer Fassung gerät, wenn es ihm doch begegnet ...

Dagegen ziehen in Frankreich auf lange Zeit das Schöne und das Gute die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich. Das Häßliche und das Böse wird nicht verbannt und macht weiter kein Aufsehen.»***

Der Vollständigkeit halber die gesamte Glucksmann-Passage:
«Im 16. Jahrhundert blieb Frankreich zwischen Rom und Luther unentschieden. Im 17. Jahrhundert war es damit zu Ende – weder Rom noch Luther. Der ‹Langzeitidentität› Italiens überließ Frankreich die Suche nach dem Schönen. Haben nicht heute so manche Italiener vor allem vor der Häßlichkeit Angst? Der deutschen Kultur überläßt Frankreich die Sorge um das Gute, den Wunsch, gut zu sein, das engelgleiche Dasein eines Gretchens, das so lebt, als gäbe es das Böse nicht, und außer Fassung gerät, wenn es ihm doch begegnet. Dagegen ziehen in Frankreich auf lange Zeit das Schöne und das Gute die Aufmerksamkeit nicht mehr auf sich. Das Häßliche und das Böse wird nicht verbannt und macht weiter kein Aufsehen. Aber die Dümmlichkeit, die mir ein anderer nachsagt, die ich mir selber attestiere, wird zur Kapitalsünde und zum schlimmsten Schimpfwort. Seit es um den gesunden Verstand geht, habe ich keine Möglichkeit mehr, mich auf irgendeine Wahrheit zu berufen. Mit gemischten Gefühlen kann man zugeben, man sei nicht gut, und sich damit abfinden, daß man häßlich ist. Aber kann man sich als dumm akzeptieren? Das ist im normalen Leben wenig wahrscheinlich. Das Prahlen damit, daß man nicht dumm ist, setzt einen aber, heimtückig genug, der höchsten Form der Dummheit aus, deren Geheimnis, vor Moliére, bereits Montaigne, boshaft genug, gelüftet hat: ‹Die Franzosen schienen Affen zu sein, die rückwärts von Ast zu Ast auf einen Baum hinaufklettern und oben angekommen den Hintern zeigen.›»
* Ortega y Gasset: Über die Liebe, Meditationen. Die Liebe bei Stendhal, S. 134
** Ortega y Gasset, ibd.
*** André Glucksmann: Die Cartesianische Revolution. Von der Herkunft Frankreichs aus dem Geist der Philosophie; aus dem Französischen übersetzt von Helmut Kohlenberger, Reinbek 1989, S. 72f.; Original: Descartes c’est la France, Paris 1987

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