Vergessen und Verdrängen

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Dienstag, 12. Februar 2013



«Weil in Österreich Fußball-EM abgehalten wird, stellt man ein taz mag mit Themen aus dem Nachbarland zusammen», entnahm und entnehme ich neu, da es gestern wie Glaubersalz rechtzeitig zum finalen Fasten wieder ausschwitzte, dem einstigen TAZ-Blogger Hans Pfitzinger. «Und weil 40 Jahre seit 1968 vergangen sind, bringt Robert Misik einen Beitrag zur Kunst unter. Dem Fachmann Buchta oder wie er immer heißt hatte ich den Artikel mit dem doch sehr trefflichen Titel Blut, Scheiß und Tränen geschickt. Es ging um die Aktionskünstler Günter Brus, Valie Export, Otto Muehl, Hermann Nitsch, und andere mehr. Misik vertritt nun im taz mag den Standpunkt, dass «68» in Wien eher als Revolte gegen den Kunstbegriff denn als politischer Aufstand in Erinnerung geblieben ist.»

Ich hatte auf die offensichtliche Fragestellung kurz geantwortet:

«Der Text ist soweit in Ordnung, zeigt aber einmal mehr das Problem der jüngeren Zeit: Sie schreiben schnoddrig und allwissend, gehen aber nicht in die Tiefe. Auf die Wurzeln dieses Aktionismus gehen sie nicht ein: daß nämlich Blut, Sch(w)eiß und Tränen tief in diesem unglaublichen Katholizismus und in einer vermutlich daraus resultierenden romantisch-apolitischen Haltung verankert sind. Das dürfte mit der Grund sein, daß Brus, Nitsch und so weiter in der Regel Unverständnis entgegensprang und -springt. Aber so ist das eben mit unseren Journalisten und Schriftstellern: Da viele nicht bereit sind, den Teufel zu studieren, sind sie auch nicht in der Lage, ihn auszutreiben.»

Nachdem ich meinen Kommentar veröffentlicht gesehen hatte, kam mir vor allem der Schluß dann doch mindestens so kryptisch vor, wie die Aktionen der Wiener und deren Satelliten auf andere gewirkt haben dürften und immer noch wirken. Deshalb noch ein paar erläuternde Kulturassoziationen:

Tatsächlich war es ja so, daß die Aktionisten sowie deren Umfeld wie etwa die sich lose formierende Wiener Gruppe — deren Name eigentlich eher ein Zufallsprodukt ist, das von den Schubladisten nur zu gerne aufgesogen wurde — sich im Vorfeld durchaus politisch, sprich revolutionär gerierten, das aber (von der Öffentlichkeit im wesentlichen unbemerkt) derart theatralisch tat, daß nichts anderes dabei herauskommen konnte als Happening (Jonas Überohr Salzinger hat sich dazu mal amüsiert und amüsant außerösterreichisch, lies: protestantisch, also unnitschisch geäußert). Aber vermutlich liegt es tief in den österreichischen, (vielleicht) genauer: hauptstädtisch wienerischen Genen verankert, daß ihnen alles zum Kabarett gerät. Womit sie letztendlich auch recht haben. Denn wer diese fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und auch das neue Jahrtausend in Österreich ernst nimmt, beerdigt sich sofort selbst. Womit wir bereits wieder nahe an der vielzitierten Todessehnsucht lägen, diesem Totenschädel, der einfach nur in Ruhe gelassen in Frieden vor sich hinleben möchte, fest eingesponnen im Kokon einer (hier) unpolitischen Romantik — die dann doch letztendlich beziehungsweise zwangsläufig politische Auswirkungen zeitigt. So etwas gebiert eben eine Kultur, die ihresgleichen sucht und bereits im Augenblick ihres Werdens in den Sarkophag der (Kunst-)Geschichte wandert.

Die guten Münchner Kabarettisten der siebziger Jahre könnten da parallel betrachtet werden, denn auch sie entstammen allesamt diesem erz-katholischen (österreichnahen) Denkraum, hier Passau und Umgebung. Siegfried Zimmerschied, Rudolf Klaffenböck waren nur wegen ihrer Verzweiflung gut, auch Ottfried Fischer oder Bruno Jonas, aber letztere sind schon lange TV-reformiert (wie auch Zimmerschied sich offensichtlich des Jungfrauenscheins zu entledigen gedenkt). Die nächste Analogie wäre die zu dem früher Abhängigen — Raucher, Säufer, Kommunist et cetera —, der zum Fanatiker wurde und seither sozusagen mit Anti-Propaganda-Sprenggürtel um den Alt-Generationen-Bauch durch die desolate Gesellschaft schläfert.

Das Orgien-Mysterientheater von Nitsch, Brus oder Muehl können in der nördlicher gelegenen Republik nicht verstanden werden, da die von der Reformation entleibt, vielleicht besser: entseelt wurde. Was die wienerisch bestimmten Österreicher aufgeführt haben und teilweise noch aufführen, ist eine Exegese der katholischen Kirche, nicht aber Kritik an der Religion. Jedem so manches Mal erst spät geborenen Atheisten scheint mir nämlich ein Teilchen von dem da oben innezuwohnen, quasi als geistiges, ehemals sprituelles Rudiment intensiver archäologischer Studien der Nichtmaterie. Die mangelnde Kenntnis schuf und schafft das große Mißverständnis oder Nichtverstehen hierzulande, und selbstverständlich auch das derjenigen, die der Meinung sind, die vom Staat losgelöste, aber dennoch via allmächt'ger Lobby gesetzgeberisch tätige Kirche sei identisch mit katholischem Leben, das institutionell wohlgeordneter Religions(aus)übung zu unterliegen hat. Das war in erster Linie damit gemeint, als ich schrieb: «Da viele nicht bereit sind, den Teufel zu studieren, sind sie auch nicht in der Lage, ihn auszutreiben.»

Hans Pfitzinger illustrierte die Ereignisse dieser Zeit mit eigenen bildhaften Erinnerungen:
«Valie Export ist mir in guter Erinnerung, weil ich einmal ihre Brüste befühlen durfte bei einer Veranstaltung im Circus Krone in der Marsstraße. Da spielten auch Paul und Limpe Fuchs. Limpe spielte Schlagzeug, und sie trat immer mit nacktem Oberkörper auf, den sie, wie auch das Gesicht, schwarz bemalt hatte. Ihr Ehemann Paul spielte auf selbst gebauten Instrumenten und erzeugte oft infernalischen Lärm. Derweil ging Valie Export im Publikum herum und führte ihr Tastkino vor. Dazu hatte sie sich einen Pappkarton um den Oberkörper gebunden, der vorne offen, aber mit einem Vorhang versehen war. Jeder der wollte, durfte in den Karton hineinlangen und ihre Brüste befummeln. Das war sehr schön und ich fand das erregend, so demokratisch jeden, der sich traute, an ihre Titten zu lassen. Sie hatte wohl auch ihren Spaß, ihre Nippel wurden ganz hart, und sie sah mir gütig lächelnd und irgendwie triumphierend in die Augen.»

Die protestantische Variante dieses kulturellen Leid-Themas hätte dann auf einer Schweiz-Seite zur Europa-Meisterschaft in der taz oder anderswo folgen müssen. Denn auch die eidgenössische Kulturgeschichte hat so ihre (formidablen) Eigenheiten. Aber es blieb meines Wissens aus. Auf der Rütli-Wiese gibt es aber auch keinen Karneval. Dort fastet man nur nächtens.

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