Vergessen und Verdrängen

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Montag, 11. Februar 2013

Irgendwie kommt man an Kurt Tucholsky nicht vorbei, wenn von Marseille die Rede ist; auch wenn er nicht unbedingt dort, aber angesichts seiner Texte über die Stadt irgendwie dann tatsächlich dort gelebt hat, scheinbar kurz, aber auf jeden Fall lang anhaltend; «nachhaltig» hätte sich sicherlich mit einem notierten Bonmot erübrigt. Und über Tucho landet man immer zwangläufig bei Herrn Raddatz, der ja seit Menschengedenken, also kurz nach '68, der Tucholsky-Stiftung vorsteht, vorstand. Dabei ging's in meinem Gespräch mit der Touristen betreuenden jungen Frau, als ich nach einem mittleren Hüpfer in Mariagne beziehungsweise am Tischchen am Alten Hafen gelandet war, eigentlich um Marius ...

Fritz J. Raddatz — mit etwas Mühe, aber letztendlich unfallfrei brachte sie den Namen über Zunge und Lippen. Das ist kein Name für unsereiner, hätte Tucholsky als Franzose vielleicht geschnipselt. Bestimmte, aus dem Welschen kommende Konsonanten und dann noch in solch außerordentlicher Anordnung, das kriegt man in Frankreich nicht einmal geschrieben, selbst wenn es gedruckt vor einem liegt. Und dann auch noch gesprochen?! Aber sie bekam es am Ende dann doch ohne Zungenüberschlag hin; doch sie hatte es ja, wenn auch bereits eine Weile her, einige Semester lang an einer deutschen Universität germanistisch geübt.

Zwar ging es ja um besagten Marius, eine Figur aus Marseille. Aber über Fritz J. Raddatz, den früheren Feuilletonchef der Zeit, von ihr später ins Kulturkorrespondentenexil nach Paris ausgewiesen, da er im Oktober 1985 über Goethe gestolpert war, da er dem eine Bemerkung zur Eisenbahn zugeschrieben hatte, die erst drei Jahre nach dessen Tod losfahren sollte, über die beiden machten wir einen kleinen Umweg. Über Raddatz und Tucholsky eben. Letzterer hat Marseille sehr gemocht. Seine wenigen, dafür in stiller Leidenschaft verfaßten Stimmungsbilder aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammenden belegen das, sie lesen sich teilweise nachgerade aktuell.

Über die antiwilhelminische ff. Wortschleuder also hat Raddatz in seinem Essai Tod als Nicht-Utopie[1] in etwa geschrieben: Bei dem Schriftsteller hat man sich seit Jahrzehnten auf zwei Klischees festgelegt — der trällernde Bänkelsänger, der Charmechansonneur von Frau Inez Kaludrigkeit und Anna Luise. Peter Panther, der Tiger auch oder der Wrobel. Von Hauser nahm man weniger Notiz, von Kurt Tucholsky am wenigsten. Die Abwehrmaßnahme der Pseudonyme wird hingenommen als lustiges Spiel auf einer vielfarbigen Klaviertastatur. Es sind aber Gräben, Burgwälle, hochgezogene Brücken. Wer weiß es schon — er schrieb nicht nur die munteren Entlarvungen der Seelen-Portemonnaies von Wendriner und Lottchen. Die Assoziation innerhalb des Gesprächs kam via Marius et Jeannette. Ersterer, meinte die Gesprächs-partnerin, sei vermutlich vergleichbar, sei zwar kein Pseudo-, aber ein Synonym: für diesen schlichten Marsaillais, der nicht sonderlich gut denken könne. Robert Guédiguian habe sicherlich bewußt diesen Namen für diesen Film gewählt, weil er ein Cliché der Lächerlichkeit darstelle, aus der er es herausnehmen wollte. Denn überwiegend wahrgenommen werde er als derjenige, der in Marseille so oft anzutreffen sei wie dieser Herr Wendriner in Berlin.

Fürwahr, er ist dieser Marius Wendriner, der in La Provence[2] gelesen hatte über eine Filmwoche zu Marseille und der sogleich laut ausgerufen hat: «Ô jobastre! Pauvre mastre! Quel désastre ton César.»[3] Diese Katastrophe César. Es ist zu vermuten, daß er nicht so sehr den französischen Filmpreis sowie die Interpretation der Figur des Marseillais Marcel Pagnol gemeint, sondern in einer Erweiterung seiner Kritik sogleich das Monument, diese Plastik des anderen Marseillais César am Rand der Corniche verdammt hat. In La Provence trägt es die Überschrift Amis de la poésie. Es ist nicht deutlich, ob Ironie dabei mitgeschrieben hat. Erkennbar wird es nicht, wohl aber die Peinlichkeit. Es ist diese Kleinbürgerlichkeit, die jeden neuen Gedanken zu verhindern trachtet. Er hat es gelesen und sehr laut applaudiert. Dieser Marius ist sicher der Bruder von Herrn Wendriner. Er verehrt das Simple. Und er liebt es, wenn andere das vor ihm aussprechen und er es vernehmlich nachplappern darf.

Es ist schwierig mit dieser pagnolschen Figur. Außerhalb von Südfrankreich wird das Bild immer so schief, weil meist Menschen es sich ausschließlich nostalgisch-verzückt anschauen, die überhaupt keinen Bezug zu dieser Mentalität, zu dieser Lebensart haben. Dann befinden wir uns exakt in der Situation: alles hängt in einem Rahmen und keiner schaut hinter diese Einfassung oder zumindest etwas über sie hinaus. Dann hocken sie vor ihrem deutschen Fernsehapparat und stöhnen lustvoll: Ach, in diesem Frankreich muß es noch schön gewesen sein! Wie bei Sissi und der ganzen anderen Geistfreiheit, die auf jedes authentisch-historische Umfeld verzichtet. Und ja, das vergaß sie nicht zu erwähnen, sie sitzen auch vor einem französischen Fernsehgerät! Da waren wir uns einig.

Dann kommt eben auch noch dieser Alphonse Daudet dabei heraus: als Zeichner von Menschen, Daudet, das Tränentier. Wie eine Frau Brock-Sulzer mal geschrieben hat: Er malt, was er sieht, malt bis in die flüchtigste, vergänglichste Schwebung hinaus. Aber sein Auge kennt auch die Träne. Tränen des Mitgefühls. Zärtlich melancholische Selbstironie. Sog sich voll an dem, was sein Wesen war.[4] Und so weiter. Ein ziemlich wohliges Wortgeklingeling. Nun gut, sie hat ja auch ein paar durchaus erträgliche Sätze abgesondert. Ertragreich eher weniger. Fünfziger-Jahre-Töne eben. Eine früher Verweigerin der späteren Rechtschreibreform. Sie schrieb noch 1959 «Hülfe» statt Hilfe — Tucholsky würde bei sowas am liebsten sofort wiederauferstehen — und interpretierte in Daudet Angst vor der Masse hinein, jene Masse, die ihn später, während der wilden Wirren von 1870 so erschüttern sollte. Sehr deutlich.

Über Tucholsky ist auch viel von diesem Brei angerührt worden. Zu Kalendersprüchen reduziertes Wissen eines genialen Journalisten. Mehr Geduld beim Lesen wollten sie nicht aufbringen. Es hätte ja der deutschen Sache schaden können. In dessen Feuilletons steht mehr über Frankreich, als alle deutschen Edelgazettenschreiber und Historiker bis heute herausgefunden haben, in differenzierendem Respekt und in einer unerschütterlichen, gewachsenen Liebe nach dem Verliebtsein. Liebe also. Völlig entsetzt hat mir mal eine Freundin, als Übersetzerin ins Französische des Deutschen durchaus mächtig, geschrieben: Wo war dieser Mann zwölf Jahre lang in France?! Gemeint hat sie damit allerdings nicht Tucholsky und auch nicht Joseph Roth, sondern Ulrich Wickert, der Deutschen einstiger sogenannter Mister Tagesthemen, früher Korrespondent in Paris. Auch er nahm's nicht so genau. Er hatte damals ein neuerliches dickes Buch verfaßt, das auch noch in hoher Auflage unter die Menschen gebracht wurde. Doch unter denen, meinte die Freundin, kann der nicht gewesen sein. Der war ja nur auf irgendwelchen Veranstaltungen, die von irgendwelchen Ministerien oder anderen Käse- oder Weinverkäufern arrangiert wurden. Sie antwortete damals fragend: Ist Gott noch Franzose?

Was wollte ich eigentlich? Ach ja, vermutlich mal wieder was über Marseille erzählen.

«Und nun, wie kannst du verlangen, daß ich mich nach deinem geräuschvollen, schwarzen Paris sehne? Ich befinde mich in meiner Mühle so wohl! Das ist gerade der Erdenwinkel, den ich suchte, ein kleiner duftender und warmer Winkel, tausend Stunden weit entfernt von Zeitungen, Droschken und Nebel! ...» (Briefe aus meiner Mühle)


1 Fritz J. Raddatz: Tod als Nicht-Utopie, in: Kurt Tucholsky, Text + Kritik, Heft 29, München 1971
2 Leserbrief von Jean-Marc Dermesropian aus Marseille aus dem Jahr 2000
3 Jobastre, jobastron: ein durch Marcel Pagnol berühmt gewordenes Adjectiv; Bezeichnung einer unvorsichtigen, tollkühnen, draufgängerischen Person, deren geistigen Fähigkeiten aber etwas zu wünschen übriglassen.
4 Elisabeth Brock-Sulzer im Nachwort zu: Alphonse Daudet, Meistererzählungen, Manesse Verlag, Zürich 1959

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