Vergessen und Verdrängen

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Samstag, 23. Februar 2013

Ein gänzlich Unwissender, ein Tanzlehrer hat ein- oder mehrmals behauptet, man könne alles lernen. Auch das Tanzen. Und nicht mal recherchiert hat er, etwa bei M. A. Numminen. Der hat über den finnischen Tango geäußert, er sei unanzüglich, er würde so getanzt, weil er Frauen auf Distanz halte, also nicht so botenstoffstimulierend sei wie argentinischer.

Tanzen kann man nicht lernen! Tanzen kommt von innen und will draußen als Rhythmus und Harmonie oder was sonst noch alles gefallen. Wenn dieser Herr aber unter Tanzen das versteht, was diese seltsam kostümierten Figuren und Figurinnen häufig zur meist sonntagnachmittäglichen Tanzstundenzeit in bundesdeutschen TV-Kulturkanälen tun, werden ihm die Engel prophylaktisch Hausverbot erteilen. Und von mir kriegen diejenigen Platzverweis, die das aus dem Rock'n'Roll gemacht haben, diese Tanzlehrer, was ebenfalls mit Leidenschaft (früher sehr gerne von Heribert Faßbender, einem bereits vor der Rente verrenteten deutschen Fernseh-Sportreporter) oder ähnlichen Feuilletonisten als «hochästhetisch» bezeichnet wird und richtigerweise vom selben Redakteur betreut wird, der auch fürs Eiskunstlaufen und Synchronschwimmen zuständig ist.

Nur wer in der Lage ist, auch auf Beethovens Neunte Rock'n'Roll zu tanzen, beherrscht ihn. So wie ich in den Endsechzigern, als Erholungspäuschen von Politik und Studium oder andersrum, jeden Morgen um fünf, direkt neben der Anwaltskanzlei von Otto Schily in Wilmersdorf. Aber sie kennen Beethovens Neunte nicht. Deshalb können sie sich auch nicht nach ihr bewegen. Bei Beethoven hat man stillzusitzen. Dabei darf nicht gelacht werden. Tanzen ist keine Kulturübung wie die «ästhetisierte», will heißen einem bestimmten Schönheitsideal angepaßten Festspiele beispielsweise im Palais des Papes in Avignon, in normierender Einengung des Tanzes der Mademoiselles auf den Brücken zur Stadt.

Tanzen ist Leidenschaft, Vergessen, Hingabe, an sich selbst und an die oder den anderen, Tanzen ist Erotik und manchmal sogar Sexualität — Rausch. Eine gute Bekannte, die rauschhaft tanzte, beantwortete mir die Frage nach ihren Gründen der lockeren Bewegungsart, das sei ihr Vorspiel. Auf dessen Dauer und Intensität käme es an. Wie bei der Kunst. Der richtigen. Früher, als ich mich noch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens befand und ich noch bewegungsfähig, mein Geläuf noch nicht gefesselt war, war es ein entscheidendes Kriterium, wie sich eine Frau beim Tanzen bewegte, wie sie tanzte. Wenn sie, da konnte sie noch so hübsch sein, aber — wie der Brasilien-Kenner Hans Herbst einmal völlig zu recht schrieb — wie fast alle Mitteleuropäer «eingegipste Hüften» hatte, hob sich mein Adrenalin-, meinetwegen Testosteronspiegel keinen Jota, und ich gab mich lieber dem Dasein des Am-Rande-Stehens hin. Entscheidend ist dabei auch immer gewesen: Nahezu jeder, der ein Gesicht hatte, in dem zu lesen, in dem also Bewegung zu erkennen war, konnte dem auch über den Körper Ausdruck geben. Also kann jedes schöne Gesicht auch tanzen. Illustriertenschönheiten dürfen das nicht, deren Form hat ein Tanzlehrer geprägt. Es könnte ihnen also der mühsam erlernte Bewegungsablauf aus dem Charakter rutschen und sie so für alle Zeiten arbeitsunfähig machen.

Eben und denn: Schönheit kann man nicht (auswendig) lernen — links zwo drei. Ich geriet früher aus beruflichen Gründen zwei- bis dreimal im Jahr auf Veranstaltungen, in denen nach dem Essen «zum Tanz gebeten» wurde. Da man bei diesen Lautstärken in der Regel nicht einmal ein dünnes Gespräch brüllen kann, ließ ich als Behinderter mich meistens auf dem Beobachterposten nieder. Und entsetzt stellt der Behinderte fest — behindert deshalb, weil ihm niemand eine Chance gibt, auch tanzen zu dürfen, weil er sich inmitten dieses roboterhaften Stakkatos nicht bewegen kann, ja paralysiert ist. Niederschmetternd ist das — weil die Menschen in diesem Lande (und in anderen Ländern) so denken und handeln wie sie tanzen, wie die Fernsehschule des Lebens ihnen das vorgibt. Ouf ! wie wir Franzosen sagen — die auch nicht tanzen können, und schon gar nicht Rock'n'Roll. Ich habe es der Französin an sich mal in ihren Knigge geschrieben: Vermeide es, Rock'n'Roll zu tanzen, Mademoiselle oder auch Madame! Ihre Schritte sind zu lang, zu groß. Selbst ein großer Schritt setzt sich aus vielen fast unsichtbaren kleinen zusammen. Ihr sollt gehen, schreiten! Dafür seid ihr geboren. Beim Gehen kann ich euch stunden-, ach was, tage-, monatelang, immerfort zuschauen. Bei eurem Rock'n'Roll verliere ich den Glauben an euch, meine Liebe zu euch, zum Mutterland versinkt im tiefen Graben der Tristesse.

Ehrenrettung! Mir fällt gerade ein, daß ich einmal eine Französin beim Rock'n'Roll kleine, richtige Rock'n'Roll-Schritte habe machen sehen. Zwar war es kein richtiger Rock'n'Roll, sondern lediglich flotte Musik, aber solche, auf die man ihn tanzen konnte. Wie ich früher auf Beethovens Neunte. Und es war, so ist's nunmal, im Kino. Und eine «reinrassige» Französin war's auch nicht, so eine, wie man sich's in der Grande Nation so vorstellt, so 'ne Blonde mit blauen Augen ...

Es war eine mit großen dunklen Augen, es war die zauberhafte Ariane Ascaride im Film Marie-Jo et ses deux amours von Robert Guédiguian (entschlüpft einer deutschen Mutter, aber das wirklich nur nebenbei) mit ihr in der Titelrolle. Beide haben armenische Wurzeln und leben — wo anders? — in ihrer beider Geburtsstadt Marseille, dort, wo der Begriff Heimat von einem österreichischen Schriftsteller zur Welt gebracht wurde. Joseph Roth: «Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.»

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