Vergessen und Verdrängen

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Dienstag, 19. Februar 2013


Als Begleitprogramm zu Lob und Dank für den da oben, aber auch gerne überhaupt hat man vermutlich den sogenannten Handwerkermarkt erfunden. Nicht nur, weil Huldigung und Lobpreisung und Ehrung sich zu Pfingsten, Weihnachten und nicht zuletzt dem drohend nahen Ostern mit seinen ramschgleichen Frühlingsgefühlen gleichermaßen eignen, sondern auch, da der Menschheit verloren zu gehen droht, was einen Teil von ihr einmal ausgemacht hat: das Handwerk. Handwerkermärkte haben eine Konjunktur, von der viele Politiker und nahezu alle Neuliberalen sich so sehnlich wünschen, sie käme endlich insoweit (zurück), auf daß man sie sich wieder, wie in der guten alten Zeit, zurechtdrechseln könne.

Seit den Neunzigern beobachte ich das, als die Wälle niedergerissen waren und die Schlagbäume sich aufzurichten begannen und man in deutschen Unternehmen eine Begründung dafür gefunden hatte, Löhne und Gehälter senken zu dürfen, da «gespart» werden müsse für bessere Zeiten. Wenig später kamen sie dann, in denen man den Geldwert halbierte und Kostensteigerungen noch obendrauf setzte, da der Markt nunmal erdkugelrund zu rollen begann. Damit einhergehend nahm endgültig diese Sehnsucht immer größeren Raum ein, die Wolfgang Ruppert in den Achtzigern unter dem Stichwort Nostalgie «Verklärung der Erinnerung» genannt hatte. Die Besinnung aufs Regionale wurde immer ausgeprägter. Mit jeder Nivellierung, die sich zumindest dem in Europa Herumkommenden dadurch abzuzeichnen begann, indem er immer öfter nicht mehr wußte, ob er sich nun in einer Tankstelle beziehungsweise einem Supermarkt in Skagen, Assen, Beernem, Bitterfeld, Saverne oder Santander befand, machten die jeweiligen Regierungen Zugeständnisse, wobei die bereits brüsselisch gelenkt waren, ohne daß dies in der Breite wahrgenommen worden wäre. In Frankreich beispielsweise wurden Dialekte sogar an Schulen gefördert, die zu unterrichten über Jahrzehnte hin streng verboten waren. Sicherlich hatte dort die Förderung des Regionalen durch einen bis dahin rigide zentralistisch bestimmten Staat auch mit Erkenntnis zu tun, die zu vermitteln sich damals Kulturminister Jacques Lang intensiv und erfolgreich bemüht hatte. Aber die Vereinheitlichung Europas blinkte bereits durch. Es waren Zugeständnisse an kommende Ereignisse. Manch einer, dem nicht bewußt war, was da abläuft, hat's als Segen oder gar Befreiung empfunden. Und den Deutschen, die sich unter ihrer Mark und noch ein paar anderen Schmiermitteln vereint endlich wieder so nennen durften, fielen diese Heimeligkeiten verständlicherweise noch weniger auf, da der Kardinalsmantel Föderalismus solche Maßnahmen sanft überdeckte. Ich nehme dir ein wenig kulturelle Identität, da wir den Platz für ein wirtschaftlich reüssierendes Europa benötigen, dafür bekommst du eine Prise Heimatgefühl und auch noch ein bißchen Geld, auf daß das Lied von der Heimat im Verein mehr Fröhlichkeit verschalle.

Gut in Erinnerung habe ich ein sogenanntes Mittelalter-Fest im schnuckeligen Lüneburg Anfang der Neunziger. Aus dem fernen Süden angereist, um mich im örtlichen altfürstlichen Museum unter anderem mit einer (nach wie vor grandiosen) videokünstlerischen Auseinandersetzung mit dem Hildebrandlied zu beschäftigen, führte man mich während einer Nachdenkpause ins Innere des Städtchens, das zwar architektonisch überall sichtbar bereits in der Renaissance angekommen war, aber man nunmal das Mittelalter hochleben lassen wollte. Wo ich auch hinschaute, richtig bunt ging's zu. Verwundert stellte ich fest, zur dargestellten Zeit habe es, trotz allen oder auch wegen des gesalzenen (Hanse-)Reichtums, fäkal sicherlich leicht anders gerochen, und die Klöpplerinnen und Schmiede dürften auch nicht so farbfröhlich gewandet gewesen sein seinerzeit, da ihnen sonst der Landesherr was aufs eigentlich eher graue Wams gegeben hätte. Die mich begleitende Kunstwelt, die's mit der Geschichte, nicht nur der ihren, ohnehin nicht so hat(te), beeindruckte das nicht sonderlich. Hauptsache, es gab was ordentliches zu essen und zu trinken.

Rund fünfundzwanzig Jahre danach verhält es sich, bis auf die sich ständig weiterentwickelnden Zutaten vielleicht, nicht anders, wenn auch etwas inflationärer. Der Bäckerbursch in seinem hölzernen Stand bekommt eine Mütze aus dem 19. Jahrhundert aufgesetzt, das reicht für die Authentizität, die einmal gleichzeitig Wahrheit und Unverwechselbarkeit, gleichzeitig Echtheit und Glaubwürdigkeit bedeutete, auf den Begriff der Echtheit eingedampft wurde. In Massen stehen sie an, die ansonsten beim benachbarten Discounter das Billigste kaufen, das sie kriegen können. Daß das, das sie hier für den drei- bis fünffachen Preis zu erstehen gedenken, als Fertigmehlmischung inclusive aller erdenklichen Konservierungsstoffe aus derselben Fabrik kommt, die längst den letzten Bäcker von seinem angestammten Arbeitsplatz in dieselbe verscheucht hat, ficht sie nicht weiter an. Hauptsache, es geht schnell, im umluftgeheizten mittelalterlichen Holzofen. Man will ja weiter. Zum Käse- oder Wurststand etwa, mit dem Guten und den eilgereiften Waren aus Westflandern, Niederösterreich oder Südtirol, die europaweit auf den mittelalterlichen Handwerkermärkten vertrieben werden.

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