Vergessen und Verdrängen

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Montag, 18. Februar 2013

Total Cheops. Chourmo. Dann Solea. Das sind die Krimis: Policiers oder, verbreiteter: Polars. Es ist eine Trilogie. Les marins perdus ist ein anderes Buch, das Schicksale von Seefahrern beschreibt, die mit ihrem Schiff im Hafen von Marseille liegengeblieben sind, weil die Gerichtsbarkeit es fixiert hat. Der Eigentümer des Schiffes hatte seine Schulden nicht bezahlt. Doch Schicksale hat er ohnehin immer beschrieben. In den meisten Fällen die von Verlierern. Er muß die Menschen sehr geliebt haben. Das ist wohl seine Sehnsucht, sein Verlangen gewesen, es ist das, was ihn bewegt hat. Vermutlich nicht einmal so sehr die von ihm beschriebenen Verbrechen. Doch: dort, wo Verbrechen Menschen zerstört. Und deren Heimat. Und alles ist eine einzige enorme Liebeserklärung, eine zärtliche — an Menschen, an Freunde, an das Zusammenleben, an Frauen, an Marseille.

Joseph Roth hat geschrieben: «Alle Erden aber segnet dieselbe nahe, sehr heiße, sehr helle Sonne, und über alle Völker wölbt sich dasselbe blaue Porzellan des Himmels. Alle trugen das Meer auf seinem breiten, schwankenden Rücken hierher, jeder hatte ein anderes Vaterland, jetzt haben alle ein einziges Vatermeer.» Und: «Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille.»

Izzo muß es gelesen haben. Es ist es exakt eines seiner Sujets. Jeder, der auf der Suche ist nach irgendetwas, vielleicht nach sich selbst, und der nach Marseille kommt, schreibt er, der ist dort zuhause: Ich vermute, Izzos Leser wissen nicht, woher er das hat. Oder aber es gilt Kurt Tucholskys These: Es gibt keinen Neuschnee. Alles ist schon einmal dagewesen. Parallelität oder gar Identität der Gedanken.

Jean-Claude Izzo hat seinen Büchern ein bescheidenes Leben injiziert. Die einfacheren Restaurants (was nicht mit denen in Deutschland gleichbedeutend ist) und schlichteren Bars, wie in Frankreich die Cafés (die es in der Form in Deutschland nicht gibt) genannt werden, spielen eine geradezu entscheidende Rolle in seinen Polars.

Wenn ich auch um so weniger verstanden habe, weshalb er ausgerechnet und immer wieder das La Samaritaine so sehr lobt, diesen Touristenschuppen an der Ecke Rue de la République und Quai du Porte, in dem der Café um einiges teurer ist, aber dafür auch erheblich schlechter schmeckt als beispielsweise gegenüber, auf der anderen Seite des Alten Hafens, in der Bar Marengo (im Bildmitte links, mit Tischen und Stühlen vor dem Haus) — in dessen Umgebung sein Held Fabio Montale sehr viel besser gepaßt hätte. Er erwähnt La Samaritaine in jedem Buch: diese Windbeutelkneipe mit den kleinen schnöseligen Kellnern und den überdimensionierten Preisen und dem Touristentand an den Wänden. Ich fühle mich wie auf der Touristen-Reeperbahn!

Die Freundin, die diesen Laden ebenfalls nicht sonderlich mag, meint: Vielleicht war er ein Freund des Patron? Vielleicht sei die Küche excellent?

Das bescheidene Leben von Izzo bzw. Fabio Montale — aber immer mit gutem Essen und gutem Wein. Mit einfachen Zutaten. Facile. Italienisch wie französisch. Italienische Küche. Gepaart mit französischer. Sie kommt ständig vor in seinen Büchern. Ich nehme an, nicht nur, weil er von Italien abstammt. Er beschreibt alles, was gut ist, für ihn das Essentielle. Auch den Wein. Die Menschen. Und er schreibt auch so: aufs wesentliche beschränkt.

Er war einmal Chefredakteur von La Marseillaise, der kleineren der beiden Tageszeitungen von Marseille, die andere: La Provence, das Massenblatt. La Marseillaise ist, auch heute noch, nach einigen Verschiebungen der Besitzverhältnisse, das Blatt mit dem ausgeprägteren sozialen Anspruch, auf der Seite der weniger Betuchten. Die Redaktion von La Marseillaise hat ihren Sitz am Cours d'Estienne d'Orves, ein paar Schritte entfernt nur von der Bar Marengo, wo man früh und auch spät immer wieder Redakteure antrifft. Um so rätselhafter ist mir, daß er sie nie erwähnt hat in seinen Büchern. Möglicherweise hatte er damit abgeschlossen.

Izzo hatte dem Jornalismus adieu gesagt und begonnen, schlimme politische wie soziale Verhältnisse in Romanen zu beschreiben, weil er des Streites der Linken überdrüssig war. Ein — klassischer — Linker ist er wohl auch geblieben. Das wurde, beispielsweise, deutlich an seinen Äußerungen zur zeitgenössischen Kunst. Über die Arbeit eines anderen italienischen Marseillais, den Bildhauer César, hat er sich mal geradezu unflätig geäußert. Die störrische Altlinke: Etwa der Filmkritiker in Libération zur zauberhaften Amélie Poulain. Der meinte auch, hier würde ein Frankreich gezeigt, daß es nur im Kino gebe. Bloß keine Phantasie aufkommen lassen.

Dazu paßt Izzos Sprache. Sie ist nicht so sehr diejenige, die mich begeistert. Sie ist simpel. Jedenfalls in diesen Polars. In Les marins perdus, deutsch Aldebaran, ist sie gesetzter, auch adjektivischer. Vielleicht ist das Schlichte in seinen Polars Stilmittel. Und das hat ihn wohl (mit) sehr populär gemacht. Fast ist anzunehmen, daß es nicht so sehr die Leichen waren, die er zuhauf produziert hat, als vielmehr die Legenden um Marseille und die Marseillais und Marseillaise.

Es mag auch sein, daß er soviel Tote produziert hat, auf daß viele Menschen seine Mitteilungen über die Menschen lesen. Unter jeder Leiche hat er quasi seine Botschaft versteckt. Er hatte nur eine Botschaft. Doch er hat sie in viele winzige Teile zerlegt, die Namen haben wie das revolutionäre liberté, egalité, fraternité, das in Frankreich nicht wirklich noch Gültigkeit hat, vor allem jedoch Liebe-Liebe-Liebe, in allen Variationen, aus alle Perspektiven, wie Facetten eines Diamanten, in dem sich diese eine Farbe aufbricht zu vielen Farben. Wer im Sinne von Izzo die Toten angehoben hat, um darunterzuschauen, der hat sie vernommen, diese Mitteilung. Und er hat dabei sehr schöne Passagen darin, sehr poetische. Bilder von großem, doch eben einfachem Zauber. Es ist manchmal wie ein Bild, das von einem Kind gemalt ist.

Die bildende Kunst der anderen Marseillais Arman, César und Raymond Hains hat für Izzo offenbar nicht genug Vernunft. Sie ist ihm wohl zu bourgeois. Malerei und das, was diese Stars der Kunstszene ansonsten fabrizieren, ist ihm wohl zu sehr Anarchie. Jedoch nicht politische Anarchie! Anarchie als ein Chaos. Freiheit von innen. Wie César. Maler der dritten Dimension. Der sie auch außen gezeigt hat. Deshalb vielleicht hat Jean-Claude Izzo das nicht gemocht.

Seine Sätze haben wohl deshalb weniger Farben, vielleicht, um im Bild zu bleiben: nur die reinen Farben. Und dennoch entstehen auch dabei sehr lebhafte Bilder. Sie sind mehr Rhythmus. Es ist mehr auf den Punkt gesetzt. Dann kommt der nächste. Und so fort. Seine häufigen Beschreibungen von Musik zielen dorthin.

Es ist durchaus Vielfalt. Er stellt diesen Begriff in den Zusammenhang mit dem Jazz, über den er viel schreibt — hier gerät er sogar, dem Thema gemäß, manchmal ins Phrasieren. Dennoch bleibt es schlicht. Wie die Menschen, über die er schreibt. Also alles mögliche — Chanson gibt's bei ihm weniger. Etwas Léo Ferré. Aber der hat Marseille ja tatsächlich geliebt, hat es Paris vorgezogen, hat 1972 im Palais des Congrès mit Marseille eine Hymne gesungen, von den Menschen, «die von Traurigkeit ausgestopft», also von den Trauernden, deren Haare deshalb strohig geworden sind.
«O Marseille on dirait que la mer a pleuré
Test mots qui dans la rue se prenaient par la taille
Et qui n’ont plus la même ardeur à se percher
Aux lèvres de tes gens que la tristesse empaille.»
(aus dem Textbuch zu La violence et l’ennui, La mémoire de la mer, Monaco 2000)
Einmal, wenn ich mich recht erinnere, kommt auch Charles Aznavour vor. Nun, der war Armenier. Und Marseille ist sozusagen die Hauptstadt der französischen Armenier.

Mehr dem Jazz war er zugetan, meist Klassisches, Miles Davis oder John Coltrane. Aber auch Raï und Khaled oder Chaba Djenet. Sogar Massilia Sound System, diese wilde Truppe, deren Sprache das Provencalische ist, aber auch die der einheimischen Jugend, zu der es sogar einen eigenen dictionnaire, den dico marseillais gibt, in dem Jean-Claude Izzo ein Vorwort geschrieben hat.

Dann gibt es bei Izzo sehr viel Spanisches, auch Musik der Gitanes. Sein Held Fabio Montale, der liebte eine Zigeunerin sehr. Sie begleitete ihn – Jean-Claude Izzo? — durch seine Trilogie. Es ist Lole. Sie ist seine große Liebe. Sie verläßt ihn. Ständig stirbt er (zwischen den Zeilen) den petit mort, den kleinen Tod, den Liebes-Zenit. Erst mit ihr und dann an ihr. Der kleine Tod beschreibt nicht nur den sexuellen (männlichen!) Höhepunkt, sondern die Psychologie setzt ihn auch an für die Trennung. Und er trauert immer um Lole. Er ist überhaupt ständig traurig. Sein Fabio Montale sucht immer. Er sucht seine Frau, die ihn verlassen hat. In jeder Frau sucht er sie. Gefunden hat Fabio Montale nur den Tod. Wie Jean-Claude Izzo. Der ist allerdings nicht an einem Schuß gestorben, auch keinem goldenen, sondern an Lungenkrebs, am 26. Januar 2000.


Die ins Deutsche übersetzten Bücher von Jean-Claude Izzo sind im Zürcher Unionsverlag erschienen.

Ursprünglich verfaßt 2006/2008

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