Vergessen und Verdrängen

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Samstag, 9. Februar 2013

Gibt es eigentlich noch nicht tätowierte Zeitgenossen? Ich komme nicht nur deshalb darauf, da innerhalb der Bestenliste meiner blutigen wie geistigen Verwandschaft die Die Windrose • Rose des vents nicht nur die einsame Spitze behauptet, sondern unaufhörlich höher klettert im Geäst des allgemeinen Gefallens und Stubenzweig einige Male in die Berichterstattung über den Klickerklamauk hinaus hineingesehen hat.

Kaum ein Arm zeigt sich noch undekoriert. Mir scheint, die jungen Leutchens haben allesamt Angst vor der puren Nacktheit, als ob sie sich rasch etwas überziehen möchten, wenn die überzeugende Postbotin vor der Tür steht. In den fünfziger Jahren und eine ganze Weile noch ff. der hiesigen Aufklärungsbreiten war das der Fall, wenn es zu dieser Zeit auch noch ein Bote und keine dieser heutigen gehetzten Elfen war, wie eine bei mir immer wieder mal läutet und ich mich gezwungen sehe, meine Nacktheit zu verbergen. Auch in mir als einem, der eigentlich froh darüber sein müßte, daß mit dem Heranwachsen seiner Generation die blanke Haut kein protestantisches Schreckgespenst mehr war, steckt offenbar noch immer die Sittlichkeitsmethoderie des Gestern.

Aus einer anderen Perspektive betrachtet könnte ich auch zu dem Schluß kommen, die sogenannte Moderne sei wieder im Abmarsch, bevor sie überhaupt angekommen ist. Und richtig, mit der hat der Mensch an sich es nicht. Beton brut zum Beispiel ist etwas unsäglich Häßliches, das kommt seinem äthetischen Empfinden nicht gleich. Also hängt er den Zement zu. Verblendung wird das genannt. Halb Einfamlienhaus-Norddeutschland ist auf diese Art künstl(er)isch euphemismusisiert.


Erträgt die Menschheit es nicht, ungeschönt durch die Welt zu gehen? Erst stopft sie sich die Behausungen voll mit allem erdenklichen Tinnef. Doch nun paßt nichts mehr hinein in die Wohnungen an diesem chinesischen Plastik-Müll oder, bei bioökogefördertem Bewußtsein, zu Tode verurteiltem Hölzernen aus dem Regenwald oder tibetanischen Gebirgsbachsbetmühlen. Also wird die eigene Haut zu Galerie erklärt. Weil die Epidermis ohne Illustration so leblos ist.

Bei den vielen Fußballlartisten aus Polynesien verstünde ich das noch, schließlich gehört die ornamentierte Haut zu deren geisterreichen Kultur, es ist sozusagen ihr personaler Ausweis, zeigt ihre Herkunft, neuerdings Identität genannt. Bei Dunklerhäutigen ist's mir noch eher erklärlich, nicht nur wegen der entfernteren Verwandschaft, sondern auch, weil man's nicht ganz so arg sieht. Als ich noch jünger war, ordnete man diese gepiekste Haut der Kategorie Knast zu, allenfalls der unseres Jüngsten, der weniger zu den Piraten als vielmehr zu Störtebeker gehört, seinem (mittlerweile) einstigen Vorbild. Dessen Schwester denkt seit einiger Zeit darüber nach, sich das Arschgeweih entfernen zu lassen, das ihr als Siebzehnjähriger unbedingt unter die Haut gehen mußte (und Mutti erst bei Volljährigkeit gewährt wurde), weil es eine Mode war. Ich vermute, sie läßt niemanden an sich heran, weil sie an die Schleifmaschine denkt, die dabei an ihren Leib soll. Oder vielleicht an die Kosten, die das Laserschwert verursacht beim Weghauen der Törichtheit eines Backfischs. Ein unbedingtes Muß scheint es offensichtlich dennoch geworden. Wird demnächst öffentlich geschaßt, wer keine Freunde bei Asbook hat und ungekennzeichnet durch die Straßen geht?

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